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Der Zerfall der solidarischen Gesellschaft

Thomas Wischnewski

Ein besorgniserregender Befund

Die Älteren unter uns werden den Satz „Die Rente ist sicher” von Norbert Blüm noch kennen. Bereits 1986 soll er den Satz gesagt haben. Erneut findet er sich im Wortlaut des Protokolls des Bundestages vom 10. Oktober 1997 während der damaligen Debatte zum Rentenreformgesetz. „Die erste Maxime dieser Rentenreform heißt: die Generationssolidarität durch Generationsgerechtigkeit stärken.“ Die finanziellen Folgen des demografischen Wandels könnten jedoch nicht allein von den Jungen getragen werden. „Solidarität ist keine Einbahnstraße“, meinte der Abgeordnete Wolfgang Vogt (CDU/ CSU). Und Blüm warnte: „Spielt nicht Jung gegen Alt aus.“ Ein steuerfinanziertes Versorgungssystem lehnte die amtierende CDU-FDP-Regierungskoalition unter Helmut Kohl ab. Mehr Steuergelder zur Finanzierung der Rente würden weniger Leistungsgerechtigkeit bedeuten. Rudolf Dreßler von der SPD sagte in seiner Rede, dass der demografische Faktor ein pseudowissenschaftliches Alibi und politischer Unsinn sei.


Heute werden zwar oft genug noch die Argumente von damals aufgeworfen. Doch die gesetzliche Altersversorgung ist längst in Auflösung begriffen. Die demografische Entwicklung ist dabei nur ein Fass ohne Boden. Wurde die Rente eines Ruheständlers damals noch von sechs Erwerbstätigen getragen, schrumpft die Säule auf bald zwei Arbeitnehmer. Im aktuellen Bundeshaushalt der Ampelkoalition werden 107,6 Milliarden Euro als Zuschuss für die allgemeine Rentenversicherung ausgewiesen. Ohne staatliche Finanzspritze ist das einstige Umlagesystem, in dem die jeweilige Generation an Erwerbstätigen die Ruhestandsgelder erwirtschaften soll, schon lange nicht mehr haltbar.


Den weniger werdenden jungen Menschen, die ins Arbeitsleben eintreten, kann die Last der Rentenfinanzierung nicht aufgeladen werden. Und dass die jungen Leute heute so wenige sind, ist ja schließlich ein Ergebnis ihrer Elterngenerationen. Man hört dann oft Argumente, dass der Staat zu wenig für Familien und Kinder täte. Ein Blick in die Geschichte verrät, dass es die Nationalsozialisten waren, die 1935 erstmals für kinderreiche Familien eine einmalige „Kinderbeihilfe“ einführten. Ab April 1936 wurde daraus eine monatliche Zahlung. 2018 erhielten Familien 194 Euro für das erste Kind, 194 Euro für das zweite, 200 Euro für das dritte und für jedes weitere Kind 225 Euro. Ab 2025 soll das Kindergeld jedoch wegfallen. An dessen Stelle tritt die Grundsicherung. Diese ist aufgeschlüsselt in einen Garantiebetrag, welcher wie das bisherige Kindergeld anzusehen ist und einen Zusatzbetrag, welcher das Alter des Kindes und das Einkommen der Eltern berücksichtigt. Eine flächendeckende Versorgung mit Kita-Plätzen ist in der Bundesrepublik – trotz gesetzlichem Anspruch – zwar noch nicht gewährleistet. Schaut man auf die vergangenen zehn Jahre, ist jedoch einiges passiert. In einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) heißt es dazu: „Die Zahl der pädagogisch tätigen Personen in Kindertageseinrichtungen ist in den vergangenen zehn Jahren um 51 Prozent gestiegen. Rund 702.200 Betreuungskräfte arbeiteten zum 1. März 2023 in Kindertageseinrichtungen. Im Jahr 2013, als der Rechtsanspruch auf Betreuung für ein- bis dreijährige Kinder in Kraft trat, waren noch 465.000 Personen pädagogisch tätig. Die Zahl der betreuten Kinder in Tageseinrichtungen ist im selben Zeitraum um 22 Prozent gestiegen – von 3,21 Millionen im Jahr 2013 auf 3,93 Millionen in 2023. Der Anstieg ist vor allem auf den Ausbau der Betreuung unter Dreijähriger zurückzuführen: 721.600 Kinder unter drei Jahren wurden zuletzt in Tageseinrichtungen betreut, das waren 43 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor (503.900).“ Trotz dieser Steigerung sind die Forderungen nach einem weiteren Ausbau so laut, als wäre nichts geschehen. Im Zeitalter eines proklamierten Fachkräftemangels wird die aktuelle Personallücke in der Kinderbetreuung mit rund 20.500 Personen angegeben.


Die Lösung für alles heißt heute Zuwanderung. Menschen aus sogenannten Schwellenländern sollen in Deutschland ihr Glück finden, um die Versorgungs- und Solidarsysteme am Laufen zu halten. Nur mit den eigenen Anstrengungen ist es bei den Deutschen nicht mehr so weit her. Was wir heute sehen, ist, dass die geschaffene Infrastruktur und der Sozialstaat nicht mehr aus eigener Wertschöpfung der Deutschen unterhalten werden kann. Weder die personellen noch die finanziellen Ressourcen reichen aus, um Bahnen, Brücken, Gebäude und Straßen instand zu halten, und es fehlen Steuereinnahmen, um die Instandhaltung und die immer stärker steigenden Sozialausgaben zu finanzieren. Alarmierend ist vor allem wie auf die eigene Arbeitsleistung geblickt wird.


Die Deutschen haben im Jahr 2023 so wenig gearbeitet wie seit dem Corona-Jahr 2020 nicht mehr. Gleichzeitig verzeichnet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg den höchsten Krankenstand, die wenigsten Überstunden, die meiste Teilzeit. Die durchschnittlichen Jahresarbeitsstunden pro Kopf der Erwerbstätigen lagen 2023 in Deutschland bei 1.342 Stunden. Das sind 2,2 Prozent weniger als vor der Pandemie. Mit statistisch 15,2 Arbeitstagen waren die Beschäftigten nach IAB-Angaben im vergangenen Jahr so lange krankgeschrieben wie noch nie seit 1991. Hier wird eine Steigerung von über sechs Prozent gegenüber 2022 verzeichnet. Die Teilzeitquote hat sich im Vergleich zum Vorjahr auf 39 Prozent erhöht und die Zahl der bezahlten und unbezahlten Überstunden ist weiter gesunken.


In den vergangenen Wochen habe ich alle möglichen Menschen gefragt, ob sie schon einmal ausgerechnet hätten, wie viele Stunden ein durchschnittlich 80-jähriges Leben umfasst. Niemand wusste das. Es sind etwa 701.240 Stunden, berücksichtigt man 20 Schaltjahre. Wie viele Stunden davon dauert nun heute ein durchschnittliches Erwerbsleben? Laut dem Münchner Roman Herzog Institut (RHI) ist die mit Arbeit verbrachte Lebenszeit in Deutschland so kurz wie in keinem anderen EU-Land außer Luxemburg (51.113 Stunden). Demnach würden Arbeitnehmer in Deutschland im Laufe ihres Lebens im Schnitt geschätzte 52.662 Stunden in bezahlter Beschäftigung verbringen. Das sind 7,5 Prozent der Gesamtlebenszeit. Dieser Zeitraum ist der Abschnitt, in dem alle Wertschöpfung passiert, Rentensystem, Krankenkassen und andere solidarischen Systeme finanziert werden. Die Zuschüsse in den Sozialsystemen, die heute aus dem Steueraufkommen zufließen, müssen schließlich auch in dieser Zeit erwirtschaftet werden. Der europäische Durchschnitt bei der Lebensarbeitszeit liegt in allen 27 EU-Länder bei 57.342 Stunden. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen die Einwohner Estlands mit Arbeit. Sie leisten geschätzte 71.331 Stunden und liegen damit als einzige über 10 Prozent Arbeitsanteil gemessen an 80 Lebensjahren.


Hinter diesen Zahlen steckt natürlich eine jahrzehntelange Entwicklung. Das Fundament, auf dem Deutschland seinen Verteilungs- und Versorgungsreichtum aufbaute, lag bei den Generationen, die einfach länger arbeiteten. Trotz steigender Bevölkerungszahl, trotz steigender Erwerbstätigenquote – die stieg seit 1991 von 67,8 auf 76,8 Prozent – wird überall Personalmangel beklagt. Gewerkschaftsfunktionäre wiederholen permanent die Losung, dass die Arbeitsbelastung zunehme, man über eine 4-Tage-Arbeitswoche nachdenken solle – oder Lokführer-Gewerkschafter Claus Weselsky fordert die 35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich. Logischerweise brauchte der Staatsbetrieb Deutsche Bahn noch mehr Lokführer, um den Reise- und Güterverkehr aufrechtzuerhalten, bei dem es ohnehin an allen Ecken und Enden Probleme gibt.


Die Deutschen haben aus ihrer einstigen wirtschaftlichen Stärke heraus ein Anspruchsdenken entwickelt, das in ihrer eigenen Geschichte keine Vergleiche kennt. Worte wie Work-Life-Balance, Sabbatical, Teilzeit oder Homeoffice sind der Inbegriff für Selbstverwirklichung und private Entfaltungsmöglichkeiten. Und obwohl sich diese Forderungen nach Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit durchsetzen und die Freizeitpotenziale insgesamt zunehmen, steigen wie weiter vorn gezeigt die Krankschreibungen und steigen die psychischen Erkrankungen. Das statistische Bundesamt mit Blick auf Kinder und Jugendliche vermeldet dazu: „Anteilig werden seit einigen Jahren stetig mehr Kinder und Jugendliche wegen psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen stationär behandelt. Im Jahr 2011 traf dies noch auf knapp 75.200 oder 13 Prozent der gut 588.300 Klinikpatientinnen und -patienten im Alter von 10 bis 17 Jahren zu gegenüber knapp 81.000 von 427.600 Fällen im Jahr 2021.“ Dass solche Steigerungsraten möglich sind, obwohl sich Betreuung und Fürsorge durch Eltern (Elternzeitmodelle etc.), Kindereinrichtungen und Schule erweitert haben.


Eine andere Seite wird in der hiesigen Gesellschaft auch selten offen debattiert. Kurz zusammengefasst könnte man sagen: Was die Deutschen heute selbst nicht mehr leisten wollen, wird eben an anderer Stelle dieser Welt erbracht. Betrug die Jahresarbeitszeit in Deutschland 1950 noch rund 2.400 Stunden, also fast 1.000 Stunden mehr als heute, so stieg die Jahresarbeitszeit in China im selben Zeitraum um den Faktor 1.000 Stunden. Falls nun jemand glauben wollte, dass wir einfach schneller oder gar klüger als die Chinesen wären, muss man das als gefährlich rassistischen Gedanken brandmarken. Die größte Schwierigkeit, eine Entsolidarisierungsentwicklung aufzuhalten, besteht darin, dass dieses gesamtgesellschaftliche Anspruchsdenken fast schon zu einem „naturgesetzlichen“ Verständnis in der Bevölkerung mutiert ist. Was einmal errungen, kann nicht wieder weggenommen werden. Die Politik ist gegenüber diesen langen Trends und den vielen Arbeitsrechts- sowie sozialen Sicherungsgesetzen machtlos, auch weil der eigene Verwaltungsapparat ein Moloch ist, der weiterwächst. Rund 43 Milliarden Euro betragen die Personalkosten des Bundes. Die gesamte Planstellenmehrung der Beamten nahm von 2017 bis 2024 um 41.805 Stellen zu. Das alles soll die Solidargemeinschaft der Steuerzahler schultern. Aber das Gemeinwesen wird von allen Seiten ausgeplündert.

Seite 4, Kompakt Zeitung Nr. 252, 20. März 2024

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