Warum der Arbeit die
Menschen ausgehen

Die Kluft zwischen benötigten Arbeitskräften und Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wird offenbar größer. Mehr scheiden aus, weniger rücken nach, alle wollen kürzer arbeiten, sind statistisch länger krank und Zuwanderung bringt noch nicht die gewünschten Effekte. Woran liegt das?


Von Thomas Wischnewski

Fachkräftemangel ist eines der wichtigen Schlagworte von heute. Und manche Ursachen sind bekannt, beispielsweise demografische. „Die Generation der Babyboomer spielt im Zusammenhang mit der Entwicklung des Arbeitskräfteangebots in Deutschland eine große Rolle. In den nächsten 15 Jahren werden die zahlenmäßig stärksten Jahrgänge, geboren zwischen 1957 und 1969, in den Ruhestand gehen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Destatis) aus dem Mikrozensus 2021 werden 12,9 Millionen Erwerbspersonen bis 2036 das Renteneintrittsalter überschritten haben. Dies entspricht knapp 30 Prozent der dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Erwerbspersonen, bezogen auf das Berichtsjahr 2021,“ heißt es in einer Pressemitteilung von Destatis. Wegen der weiterhin rückläufigen Geburten in Deutschland werden jedoch weniger Erwerbstätige dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Dieser bekannte Trend wird von einem weiteren Aspekt verschärft: Und der heißt Teilzeit.


Im Jahr 2023 arbeiteten 31 Prozent der Angestellten hierzulande in Teilzeit. Gegenüber dem Vorjahr (30 %) ist die Teilzeitquote damit erneut leicht gestiegen. Übrigens geht jede zweite Frau einer Teilzeitbeschäftigung nach. Bei den Männern sind es 13 Prozent. Diese Entwicklung wird noch verstärkt, weil bereits die von der Anzahl her weniger jungen Erwerbstätigen oftmals den Wunsch nach kürzeren Arbeitszeiten anstreben. Teilzeitansprüche wachsen jedoch in allen Altersgruppen. Diese Tendenz wirkt sich eher negativ auf die Deckung des Arbeitskräftebedarfs aus.

 

Migranten arbeiten noch zu wenig

 

Nun soll Zuwanderung die große demografische Lücke schließen. „Aktuell arbeiten rund 2,8 Millionen Beschäftigte aus Nicht-EU-Ländern in Deutschland. Und die Zuwanderung steigt von Jahr zu Jahr: Aktuell leben rund 420.000 Ausländer mit einem Aufenthaltstitel zum Arbeiten für Nicht-EU-Bürger (befristeten Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit) in Deutschland, die vor Kurzem zum Arbeiten gekommen sind. Inzwischen kommen mehr Menschen von außerhalb der EU als aus EU-Staaten zum Arbeiten nach Deutschland. Besonders stark stieg die Zuwanderung zum Beispiel aus der Ukraine oder Indien. Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 hat sich die Bevölkerung mit ukrainischer Staatsangehörigkeit in Deutschland bis April 2024 um 1,1 Millionen auf rund 1,3 Millionen erhöht. Die Mehrheit der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sind Frauen und Kinder. Von 855.415 Ukrainern im erwerbsfähigen Alter sind mit 541.927 knapp zwei Drittel weiblich. Nach Angaben des Arbeitsministeriums arbeiten jedoch nur 187.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in einem regulären Job. Weitere 47.000 sind geringfügig beschäftigt, etwa in einem Minijob. Während in Polen und Tschechien rund zwei Drittel der ukrainischen Kriegsflüchtlinge arbeiten, sind es in Großbritannien mehr als die Hälfte. In Deutschland ist es nur jeder Fünfte. „In Polen und Tschechien, Dänemark, den Niederlanden und Irland wurden einfache digitale Verfahren eingeführt, bei denen der gesamte Rechts- und Sozialstatus mit einer Anmeldung abgedeckt wird. In den Niederlanden wurden Zeitarbeitsfirmen eingebunden, um so schnell wie möglich Arbeitsstellen zu vermitteln. In Italien und der Slowakei können ukrainische Ärztinnen und Ärzte und Pflegepersonal ohne Weiteres eingestellt werden“, schreibt die Deutsche Welle. Dagegen orientierten sich Deutschland, Österreich und die Schweiz am Asyl-System mit vielen Beschränkungen und hohen Zugangshürden. Komplizierte Verfahren, mit denen berufliche Qualifikationen, akademische Abschlüsse und Doktortitel überprüft und anerkannt werden müssen. Die beteiligten Ämter sind überlastet. Alles kostet viel Zeit. Außerdem bieten die relativ hohen Sozialleistungen in Deutschland weniger Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Den Fachkräftebedarf also mit Migration zu decken, klappt nur bedingt bzw. die Deutschen legen sich mit ihrer komplizierten Bürokratie selbst Steine in den Weg und werden den formulierten Ansprüchen nicht gerecht.

 

Immer mehr Fehltage

 

Ein weiterer, wenig beachteter Grund für das Auseinanderdriften zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage entsteht durch Entwicklungen im Gesundheitsbereich. Im Jahr 2023 fehlte jeder Arbeitnehmer in Deutschland krankheitsbedingt durchschnittlich 15,2 Tage. Damit erreichte der Krankenstand in Deutschland einen erneuten Höchstwert. „Die wirtschaftlichen Folgen des hohen Krankenstands sind beträchtlich und führen zu einem erheblichen Wertschöpfungsverlust”, schreiben die Autoren einer Studie des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen, Claus Michelsen und Simon Junker. „Wäre der Krankenstand nicht erneut so hoch gewesen, wären im Jahr 2023 etwa 26 Milliarden Euro zusätzlich erwirtschaftet worden.“ Das hätte einem Wirtschaftswachstum von rund 0,5 Prozent entsprochen. Indes stagniert die Wirtschaftsleistung in Deutschland.


Was die Zahl der Krankheitsfehltage nicht ausdrückt, ist die Anzahl, wie viele Erwerbstätige absolut krankgeschrieben waren. Vielmehr drückt sich darin ein Trend aus, dass sich die Behandlungszeiten verlängern. Da psychische Beeinträchtigungen einen wachsenden Anteil an den Fehltagen einnehmen, steigt auch die Wartezeit, um therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Aber in allen Gesundheitsbereichen ist der verlangsamte Behandlungsprozess zu verzeichnen. Ein Beispiel: Eine Arbeitnehmerin erleidet aufgrund ihrer zurückliegenden pflegerischen Tätigkeit einen sogenannten Hexenschuss mit starker Schmerzbeeinträchtigung. Bei der akuten Vorstellung beim Hausarzt wird eine MRT-Diagnose beauftragt. Einen Termin dafür erhält die Patienten nach sechs Wochen. Im Ergebnis des MRT-Berichtes wird ihr allerdings ein Doppelter-Bandscheibenvorfall unterstellt. Daraufhin wird vom Hausarzt eine Neurochirurgische Diagnose angeordnet. Auf den Termin beim Facharzt soll die Betroffene weitere sechs Wochen warten, obwohl ihr ein Notfallrezept ausgestellt wurde. Eine tatsächlich inzwischen helfende Physiotherapie wird ohne Facharztmeinung nicht verordnet. Weil sich die Wartezeiten für ärztliche Hilfe lange hinziehen, wächst wiederum die Inanspruchnahme medizinischer Notversorgung in Akutkliniken. Ist eine stationäre Notversorgung erfolgt, fällt man oft wieder in den Kreislauf der niedergelassenen Ärzte. Übrigens steigt auch unter den Medizinern der Trend, in Teilzeit zu arbeiten. Was sich dann in der Zahl immer längerer Krankschreibungen ausdrückt.

 

DRGs verlängern Behandlungen

 

Warum man oft keinen kurzfristigen Termin beim Arzt bekommt oder gar abgewiesen wird, weil eine Praxis bereits ausreichend Patienten betreut, liegt auch am im Jahr 2000 flächendeckend eingeführten Fallpauschalensystem, kurz G-DRGs genannt. Nicht die einzeln erbrachte medizinische Leistung wird mehr abgerechnet, sondern der Diagnoseschlüssel bestimmt einen Pauschalpreis für den behandelnden Mediziner. Eigentlich sollten sich dadurch die Behandlungsprozesse verkürzen. Das Gegenteil ist geschehen. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich Praxen auf eine durchschnittliche Patientenanzahl eingerichtet haben, für die sich betriebswirtschaftlich pro Quartal ein entsprechend berechenbarer Betrag ergibt. Es ist also für Patienten nicht verwunderlich, wenn sie quartalsweise zum Arzt bestellt werden, weil die eine laufende Therapieleistung abgerechnet werden kann, unabhängig davon, ob die Behandlung nötig ist oder nicht. Auf diese Weise wird das medizinische Behandlungsangebot verkürzt und die Krankheitsfehltage verlängern sich. Welche Argumente hört man jedoch aus politischen Kreisen? Die Arbeitsbedingungen würden schlechter geworden sein. Dass ein System mit gleicher Vergütung, anstatt individuell angemessener Therapie zu Mangelerscheinungen führt, sollte eigentlich aus sozialistischen Steuerungen bekannt sein.

 

Homeoffice und dessen Folgen

 

Die Arbeitsbedingungen sollten sich eigentlich vielfach verbessert haben. Ein Heilmittel wurde unter dem Namen Homeoffice erfunden. Vor allem die Corona-Pandemie mit ihren Lebens- und Arbeitseinschränkungen hat dem Trend von Heimarbeit zum Durchbruch verholfen. Unter dem Schlagwort Homeoffice wurde die neue, gute Arbeitswelt angepriesen. Seit einiger Zeit gibt es ein Zurückrudern. So forderte der Vorstandsvorsitzende Christian Klein, Chef des größten deutschen Softwareunternehmens SAP eine Rückkehr zu mehr Präsenz am Arbeitsplatz. Ein weiterer Gigant, google, hatte seine Beschäftigten schon 2023 zurück in die Büros beordert. Der KOMPAKT-ZEITUNGS-Autor und wissenschaftliche Beirat, Prof. Markus Karp, hatte in einer Forschungsarbeit aus den Jahren 2022 bis 2023 bereits manche negativen Auswirkungen entfernten Arbeitens benannt (Seine Arbeit ist unter dem Titel „Homo remotus – Kritik zur Führung auf Distanz“ im KOMPAKT-Verlag erschienen; bestellbar im Shop unter: www.kompakt.media/produkt).

 

Keine Umkehr in Sicht

 

Was wird nun aus benötigter Arbeit, um Dienstleistungen und Produktnachfragen aufrecht zu erhalten und nicht ausreichend zur Verfügung stehende Individuen bzw. deren mangelnde Bereitschaft zur Wertschöpfung und zum Serviceangebot in Deutschland zu ersetzen? Alle bisher gewünschten Effekte haben noch keine ausreichende Lösung aufgezeigt. In manchen Bereichen, wie den Mechanismen im Gesundheitssektor, ist eher eine sich verschärfende Negativentwicklung zu erkennen.


Blickt man noch differenzierter in verschiedene Arbeitsbereiche könnte die Kluft zwischen benötigter Arbeit und der, die Menschen leisten wollen, noch tiefer werden. Der Beschäftigungsbereich in der Verwaltung wächst nach wie vor. Auch dort sind vielfach Teilzeitmodelle und Fehltage Ursache, warum bürokratische Prozesse nur schleppend ins Ziel finden, sei es bei Asylverfahren, bei Baugenehmigungen oder anderen. Statistisch kommen übrigens die 355.200 Beschäftigten der Bundesverwaltung auf die längsten Krankschreibungen. Die Zahl der durchschnittlichen Krankheitstage stieg laut Gesundheitsförderungsbericht 2022 von 17,2 im Jahr 2021 auf 21,71. Im Schnitt waren Beschäftigte demnach an 8,65 Prozent der gesamten 251 Arbeitstage im Jahr 2022 krankgemeldet. Vielleicht ist auch das eine schlüssige Erklärung, warum sich auf den höchsten Ebenen der Bundesrepublik Deutschland so wenig bewegt. Aber der Trend, weniger Leistung zu erbringen, setzt sich in allen Branchen fort. Gibt es keine Umkehr, werden der Arbeit die Menschen ausgehen, die sie leisten müssten.

Nr. 260 vom 23. Juli 2024, Seite 4

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