Wenn das Ballhaus zum Wohnzimmer wird

Aschersleben und der neue Box-Boom. Was Julian Vogels Junioren-Weltmeistertitel in der Stadt am Vorharz auslöst.

 

Von Rudi Bartlitz

Super-Weltergewichtler Julian Vogel nach seiner erfolgreichen Titelverteidigung. Foto: Peter Gercke

Dass Magdeburg zu den Box-Hochburgen des Ostens zählt, spätestens seit den Nuller-Jahren und den damaligen spektakulären Fights eines Sven Ottke oder eines Robert Stieglitz ist dies nicht mehr wegzudiskutieren. Natürlich, die Auftritte einer Regina Halmich gehören ebenso in diese Kategorie wie die deutschen Mannschaftsmeistertitel der Amateure des 1. BCM. Jetzt macht, wenn freilich nicht in diesen Dimensionen, in Sachen Faustkampf auch ein anderer Ort in Sachsen-Anhalt vermehrt von sich reden: Aschersleben. In der ältesten urkundlich erwähnten Stadt des Bindestrichlandes scheint in diesem Jahr ein regelrechter kleiner Box-Boom ausgelöst worden zu sein.


Zweimal war 2024 das Ballhaus, die größte Sporthalle dort, bei einer Profi-Veranstaltung mit fast 2.000 Zuschauern ausverkauft. Die Ursachen dafür zu finden, fällt ausnahmsweise nicht schwer. Schuld daran ist ein junger Mann, dessen Stern am Faustkampf-Firmament erst in den vergangenen Monaten so richtig aufgegangen ist: Julian Vogel. Der 21-Jährige, geboren in Aschersleben und somit ein echter Local Hero, hatte im April erstmals einen Junioren-Weltmeistertitel des Verbandes WBO in die als Tor zum Harz geltende 26.000-Einwohner-Stadt geholt. Jetzt, nur ein gutes halbes Jahr später, wiederholte er dieses Kunststück in seiner Heimat sogar.


Als Vogel einen Tag nach Nikolaus zu mitternächtlicher Stunde nach dem K.o-Sieg über den Lübecker John Bielenberg den Siegerkranz um die Schultern gelegt bekam und die scheinbar unverzichtbare Sport-Hymne „We are the Champions“ durch den Saal dröhnte, da gab es für die Begeisterung auf den Ballhaus-Rängen keine Grenzen mehr. Das Bemerkenswerte daran: Angeführt wurde die stimmgewaltige Jubelschar von Fans, alle im Alter von Vogel – oder jünger gar. Ein Bild, das man in Deutschland sonst wohl bei keiner anderen Profi-Box-Veranstaltung finden wird.


Schon während des Kampfes hatte die Gruppe mit nimmer endenden „Vogel“-Sprechgesängen für gewaltig Support gesorgt. Oberbürgermeister Steffen Amme sollte mit seiner Prognose also nicht falsch gelegen haben: „Die Ballhaus-Arena wird wieder stimmungsvoll toben und die Aschersleber werden wie eine Wand hinter unserem Julian Vogel stehen“, hatte er schon im Vorfeld prophezeit. Genauso kam es. Amme später: „Nun wünschen wir uns, dass gleich 2025 die nächste Titelverteidigung wieder hier stattfinden wird!“


In jenen Augenblicken, in denen der ein oder andere Gewinner in einen Siegestaumel fällt, schien Vogel für Momente auf einer Zeit-Reise in die Vergangenheit zu sein. Bei den Dankesworten an seine Fans rutschte ihm plötzlich der Satz heraus: „Papa, du bist der Beste“. Dazu muss man wissen: Als Julian Siebzehn war, hatte er seinen Vater Olaf verloren, der früh an einem Hirntumor verstorben war. Julian hing sehr an ihm. Schon den ersten WM-Gürtel, den er im April 2024 im Ballhaus – das schon jetzt so etwas wie sein Wohnzimmer geworden ist – eroberte, widmet er dem Vater. „Morgen komme ich zu dir ans Grab“, hatte er noch im Ring mit stockender Stimme gesagt, „und bringe dir den Gürtel mit.“


Dabei hatte der Super-Weltergewichtler nach einer schmerzhaften Handverletzung in der fünften Runde geglaubt, den Kampf gar nicht weiterführen zu können. „Aber aufgeben, das konnte ich nicht – nicht hier und nicht mit den Gedanken an meinen Vater! Ich musste da durch.“ In diesem Moment, so schien es, gingen ihm all jene aufmunternden Worte durch den Kopf, die ihm der Vater, der auch erster Trainer beim VfB Aschersleben war, einst in der Ringecke zugeflüstert hatte. An dessen Todestag erinnert heute ein Tattoo mit römischen Zahlen an Vogels Hals. „Er ist immer bei mir. Sobald ich als Boxer eine Halle betrete, denke ich an ihn. Bei den Kämpfen habe ich auch immer ein Foto von Papa dabei. Bevor der erste Gong ertönt, gibt’s von mir immer noch einen Kuss drauf und dann steckt es mein Trainer Dirk Dzemski ein.“


Oft sind es Geschichten wie diese, die dem Boxen in den Augen vieler einen zusätzlichen Drive geben. „Julian war damals oft am Grab“, berichtete seine Mutter im MDR. Erst das Boxen habe ihren Sohn wieder aufgebaut, ihm neue Hoffnung verliehen. Hoffnung, die den talentierten Jungen später auch motivierte, nach Magdeburg zum SES-Team zu gehen. Dort gab er im Oktober 2020 sein Profidebüt.


Bei SES reiht sich Vogel nunmehr in eine klangvolle Liste von mehr als einem halben Dutzend Namen ein, die den Junioren-Weltmeistertitel nach Magdeburg holten, darunter auch die späteren Welt-Champions bei den „Großen“, Robert Stieglitz und Dominic Bösel. Vogels Auftritte im Ballhaus, wo SES 2009 letztmals eine seiner Galas veranstaltet hatte, unterstreichen, dass das Boxen in Zukunft nicht unbedingt nur auf mit Millionen gespickte Auftritte in den USA oder auf das neue Faustkampf-Mekka Saudi-Arabien reduziert sein muss. „Mit Julian Vogel haben wir wieder einen Sportler aus Aschersleben, der hier die Halle füllt“, freut sich SES-Chef Ulf Steinforth. „Der Junioren-WM-Kampf ist da die beste und hochwertigste Herausforderung.“ Als nächsten Schritt strebt der Promoter nun für seinen Schützling Vereinigungskämpfe mit den Junioren-Champions anderer großer Weltverbände an.


Noch einmal kurz zurück nach Aschersleben und zu Traditionen. Noch bevor Vogels WM-Triumph gefeiert wurde, stand oben im selben Ring ein kleiner bescheidener alter Mann: Günter Hennig, 87 Jahre. Über ein halbes Jahrhundert lang hat er unzählige Talente des VfB Aschersleben geschmiedet und zu zahllosen Titeln geführt. Jetzt nahm er gerührt in der ausverkauften Halle den Dank seines Vereins entgegen. Eines Vereins übrigens, der im nächsten Jahr sein 100-jähriges Bestehen begeht. Dass sie sich beim VfB derzeit einem regelrechten Ansturm von Kindern gegenübersehen, die alle unbedingt Boxer werden wollen – das allerdings dürfte weniger mit Tradition als eher mit dem Namen Julian Vogel zu tun haben.

Nr. 270 vom 17. Dezember 2024, Seite 42

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