Ich sehe was, was du nicht siehst …
Der Streit um den Einsatz des Videobeweises im Fußball will kein Ende nehmen. Im Gegenteil, sieben Jahre nach seiner Einführung in Deutschland wird er gerade neu entfacht.
Von Rudi Bartlitz
Eine durchaus ernstgemeinte Frage vorweg: Wem gelingt es, eine Situation zu schaffen, in der – nahezu synchron – Trainer dem Nervenzusammenbruch nahe erscheinen, Spieler wild gestikulieren oder erstarrt verharren, das Publikum im Stadion wie vor den TV-Geräten ebenso rat- wie hilflos dasitzt (oder eben steht)? Klare Antwort: der Videobeweis beim Fußball. Seit seiner Einführung 2017 hat er sich in Deutschland – aber auch anderswo – zum derzeit größten Zankapfel im Paradies des Profifußballs entwickelt. Und kein Ende in Sicht.
Denn kaum hat eine neue Saison begonnen, schon geht es sofort wieder los. Anschuldigung folgt auf Anschuldigung. Es könnte jetzt eine ganze Litanei an (oft berechtigten) Schuldzuweisungen folgen, was da wieder falschgelaufen ist. Wir verzichten darauf. Wie immer und immer und immer wieder geht es im Kern um die Frage, wann sich der Videoassistent einschaltet und wann nicht. Es war einer der Geburtsfehler des Systems zu glauben, es ließe sich hierbei eine einheitliche Linie finden. Manchmal kam sich der Betrachter vor wie beim alten heiteren Ratespiel: Ich sehe was, was du nicht siehst …
Bleibt also zu konstatieren: Selbst sieben Jahre nach seiner Einführung in der Bundesliga ist der VAR, der sogenannte Video Assistant Referee, noch immer so umstritten wie am Anfang. Er wird von Fans in den Kurven abgelehnt; Trainer, Sportdirektoren, Schiedsrichterexperten stellen ihn infrage. Axel Hellmann, Vorstandssprecher von Eintracht Frankfurt und Präsidiumsmitglied der Deutschen Fußball Liga, sagte jetzt, der Videobeweis sei in einer Sackgasse. Der ehemalige Schweizer Weltklasseschiedsrichter Urs Meyer vergleicht ihn in der „FAZ“ mit einem Airbag im Auto: „Wenn der bei zehn Unfällen siebenmal richtig auslöst und dreimal falsch, dann kann ich auch Russisch-Roulette spielen.“ Eine derart fehlerhafte Technik, behauptet Meyer, „hätte man in der freien Wirtschaft entweder vom Markt genommen, oder sie wäre so verbessert worden, dass es funktioniert.“
Es hat viele Beteiligte und Fans von Anfang an gestört, dass der Videobeweis den Charakter des Spiels verändere. Aber eben nicht zu seinem Guten, wie sie süffisant hinzufügen. Scharfe Kritik kam einst selbst von Rudi Völler, dem heutigen DFB-Sportdirektor, damals in gleicher Funktion bei Meister Bayer Leverkusen. „Es wird einen Tick gerechter durch die Video-Assistenten, vor allem bei Abseits-Entscheidungen“, sagt Völler, um im selben Atemzug zu betonen: „Der Videobeweis ist ein Stimmungskiller. Das ist nur schwer zu ertragen. So schadet er wegen der Abläufe mehr, als er hilft. Das Stadion-Spektakel leidet unter dem Video-Schiedsrichter.“
Es muss gar nicht in die Ferne geschweift werden, um zweifelnde Stimmen zu finden. Die Gremien des 1. FC Magdeburg hatten sich seinerzeit, obwohl der Verein noch in der dritten Liga zu Hause war, einstimmig gegen den Videobeweis ausgesprochen. Im selben Atemzug wurde betont, eine Mehrheitsentscheidung natürlich zu akzeptieren. Für die Club-Verantwortlichen überwogen seinerzeit die Nachteile, die die Technik mit sich brachte, so der damalige Sportliche Leiter Maik Franz. „Durch den Videobeweis werden Emotionen, die für uns ein ganz wichtiger Bestandteil der Vereins-DNA sind, aus dem Spiel genommen“, fügte Franz hinzu. So sei eine Unterbrechung für zwei, drei Minuten schon störend. „Warten zu müssen, bis die Entscheidung fällt, ist nicht der Idealzustand. Der Fußball lebt einfach von den direkten Emotionen.“
Das Versprechen der Technik war einmal, dass sie die Ungerechtigkeit aus dem Spiel nimmt. Oder zumindest jene Momente, in denen die Ungerechtigkeit so offenkundig ist, dass sie Spielern und Fans nicht hinnehmbar erscheint. Das goss man in die Formel: Der Videoschiedsrichter sollte klare, schwerwiegende Fehlentscheidungen korrigieren. Und nicht durch seine Eilfertigkeit den Schiedsrichtern auf dem Feld deren Souveränität nehmen.
Das Problem ist, dass sich obige Formel einfach nicht mit dem Spiel verträgt. Man konnte das jüngst wieder sehen, als Leverkusen gegen Frankfurt spielte. Da bescherte der Videoassistent dem Spiel zwei Elfmeter, meldete sich aber nicht, als kurz vor Schluss der Leverkusener Verteidiger Tah seinen Gegner erst in der Luft schubste und ihm dann auf den Brustkorb trat. Viele fanden, die Situation sei von den drei Szenen am ehesten elfmeterwürdig gewesen. Das Spiel wurde zu einem von vielen, in denen sich zeigt: Kaum jemand kann nachvollziehen, welche Entscheidungen korrigiert werden sollen. Ganz zu schweigen davon, was eine klare Fehlentscheidung ist.
Noch ist es so, dass die Entscheider über die Fußballregeln, ob national oder international, oft beratungsresistent wirken, manchmal sogar ignorant. Wohl auch, weil sie im Gegensatz zu anderen Sportarten nicht permanent um Aufmerksamkeit kämpfen müssen und deshalb jedes Risiko scheuen, die vermeintliche Erfolgsformel des Geschäftsmodells Profifußball auch nur minimal zu verändern. Der VAR in seiner derzeitigen Form allerdings fügt diesem Produkt erheblichen Schaden zu – weil er das Fußballerlebnis besonders im Stadion, aber auch im TV beeinträchtigt.
Natürlich gab und gibt es seit Einführung des Videobeweises genügend Stimmen, die ihn rechtfertigen. Manche sahen in ihm sogar einen Heilsbringer. Das macht die Sache nur noch kontroverser. Die Befürworter bringen eine Menge Daten ins Spiel, die allesamt nicht von der Hand zu weisen sind. Eine Studie im Auftrag der UEFA untersuchte Spiele in sieben Ländern und kam zu dem Schluss, dass der Video-Assistent in zirka 1200 von insgesamt 3500 beobachteten Spielen angewandt wurde und dabei größtenteils die Fehlentscheidungen des Schiedsrichters richtig korrigierte. Auch der DFB zog schon nach der Saison 2018/19 eine positive Bilanz und resümierte, dass 82 Fehlentscheidungen korrigiert worden sind. In der Saison 2017/18 waren Schiedsrichterchef Lutz Michael Fröhlich zufolge etwa 80 Prozent der Fehlentscheidungen durch den Video-Assistenten verhindert worden. Im März 2021 erneuerte Fröhlich seine Unterstützung für den Video-Assistenten und meinte, dass „98 Prozent der klaren Fehlentscheidungen verhindert“ worden seien. Diese vorgebliche Beweiskette lässt sich bis in die Gegenwart fortführen.
Man kann es drehen und wenden, wie man will, die gesamte Causa bleibt umstritten. Und noch schlimmer fast: für den Zuschauer verwirrend. Zumal in der vergangenen Woche neuer Zündstoff hinzukam. Als in der 2. Runde des DFB-Pokals der Videobeweis noch außer Kraft gesetzt war, ging es erst so richtig los. Bei so manchem Referee, so der Eindruck, herrschte Unsicherheit ohne die Absicherung am Bildschirm. Teils haarsträubende Fehlentscheidungen waren die Folge. Die Verteidiger des Videobeweises konnten (und wollten) ihre Genugtuung ob der neuen Streitereien nicht verbergen: Da habt ihr den Salat!
Dabei liegt eine Lösung schon lange auf dem Tisch. Der Fußball müsste nur den Blick heben und auf andere Sportarten schauen. Etwa auf Hockey oder Cricket schauen. Seit mehr als zehn Jahren darf bei den Krummstäblern jede Mannschaft einmal pro Spiel eine Schiedsrichter-Entscheidung in klar definierten Situationen überprüfen lassen. Wird die sogenannte Challenge korrigiert, behält die Mannschaft diese Option. Bleibt die Entscheidung der Referees bestehen, ist sie weg. Das System funktioniert, es würde, das postulieren viele Experten, auch im Fußball funktionieren. Es würde die Zahl der Eingriffe reduzieren und den Schiedsrichtern Autorität zurückgeben.
Interessant ist, dass auch der Fußballweltverband (FIFA) gerade darüber nachdenkt. Bei der U-20-WM der Frauen testete die FIFA ein solches System, diese Testphase wird gerade ausgewertet. Der italienische Verband hat sich schon bereit erklärt, das Ganze in seiner dritten Liga ebenfalls zu testen. Jochen Drees, der Projektleiter Videobeweis beim DFB, sagt, auch die Deutschen wären grundsätzlich offen für ein solches System, sollten die FIFA und der IFAB, die Regelhüter des Weltfußballs, ihr Okay geben. Auch wenn er darin kein Allheilmittel sieht: „Diskussionen über Entscheidungen wird es trotzdem geben.“
Nr. 267 vom 5. November 2024, Seite 20
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