Des alten weißen Mannes letztes Fest: Der Weihnachtsmann tritt ab

Es war November und in der Antarktis liefen die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest auf vollen Touren. Die weihnachtliche Vollversammlung sollte wie immer der Höhepunkt der koordinierten Anstrengungen für die Endphase der Weihnachtsvorbereitungen sein.


Gerade als der Weihnachtmann sein Grundsatzreferat mit Aktionsprogramm für dieses Jahr beendet hatte, öffneten sich die Flügeltüren und ein Transparente schwingender Demonstrationszug, angeführt vom goldgelockten Christkind, drängte in den Saal. „Weg mit dem Weihnachtspatriarchat! Gendert alle Weihnachtslieder! Nieder mit den drei heiligen Königen! Befreit die Weihnachtsgedichte von dem patriarchalischen Weihnachtmann und seinen Helfershelfern!“


Das Christkind reckte die nun deutlich sichtbare Brust dem Weihnachtsmann unter die Nase und schrie: „Du hast mich immer unterdrückt! Ich will jetzt auf der Christbaumspitze sitzen und alle Schokoladenweihnachtsmänner müssen eingeschmolzen werden!“ Der Weihnachtsmann schaute verdutzt. „Aber liebes Christkind. Du hast doch freiwillig Urlaub genommen, weil du nicht so viel arbeiten wolltest!“ Er schniefte. „Nix da, du böser alter, weißer Mann. Du weißt doch gar nicht, wie es uns unterdrückten Christkindern so seit Jahrhunderten geht! Schneidet ihm den Bart ab! Er soll sich ab jetzt jeden Morgen rasieren!“ Wild gestikulierte das Christkind mit den Armen umher.


Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. Aber alle blickten ihn so böse an, dass er vorsichtig, rückwärtsgehend, zur Tür strebte.


Er ging auf den Hof, wo der Weihnachtsschlitten stand und die Rentiere schon einmal probeweise eingespannt werden sollten. Sein Leitrentier, Rudolf, (bekannt aus Funk und Fernsehen), machte gerade Schwierigkeiten. Er riss sich aus dem Geschirr los und kam auf den Weihnachtsmann zu. Seine Nase leuchtete so rot auf, dass dem Weihnachtsmann schon Böses schwante. „Was ist mit Rudolf?“, fragte er die Rentierwichtel. „Oh, er hat lange mit dem Christkind Glühwein getrunken und danach kam er zu uns und sagte, er hätte sein coming out gehabt.“ „Sein waas?“ Der Weihnachtsmann glaubte sich verhört zu haben. Er schüttelte den Rentierelf. „Keine Gewalt, Weihnachtsmann! Wir alle verstehen den Rudolf! Er ist von dir, Weihnachtsmann, zum Rudolf gezwungen worden.“


„Wie bitte?“ Der Weihnachtsmann war erschüttert. Die anderen Rentiere schauten herüber, wie der Weihnachtsmann reagieren würde. Er wandte sich ab und wollte zum Stall gehen. „Ach, so“, sagte der Rentierwichtel, „meine Wichtelkollegen haben mir aufgetragen, mit dir mal über die work-life balance zum Weihnachtsfest zu sprechen.“ Er schniefte in sein kariertes Taschentuch und sah den Weihnachtsmann an: „Wir fühlen uns so ausgepowert, dass wir nächstes Jahr gern mal ein Sabbatical machen würden.“ „Ein Sabbatical? Ja, warum nicht?“ Der Weihnachtsmann verdrehte die Augen und fiel um. „Lebt er noch?“ fragte das Christkind, das aus dem Saal in den Hof gekommen war. „Nun er scheint ziemlich erledigt zu sein,“ antwortete der Rentierwichtel.


„Wir bringen ihn ins Pflegeheim“ ordnete das Christkind an. „Da sitzen schon Väterchen Frost, Santa Claus, Knecht Ruprecht, einige Schneemänner und so ein paar andere alte Patriarchen.“


Und so kam es, dass das Weihnachtsfest ohne den alten weißen Weihnachtsmann stattfinden musste. Aber die großen Handelsketten hatten ja schon im Sommer die Weihnachtsmannfiguren produziert und an den Handel ausgeliefert. Die Rauschebärte und Mützen für die vielen Weihnachtsmänner waren bestellt und die Neurekrutierung von Christkindern gestaltete sich schwierig. So wurde Weihnachten ein Fest ohne den richtigen Weihnachtmann, ein Fest zwar mit Geschenken, viel zu essen, sehr viel Lametta und viel Glühwein. Aber der Weihnachtsmann in den Herzen der Menschen war gestorben. Der sitzt immer noch im Pflegeheim und fragt sich, was er mit dem Christkind falsch gemacht hat.


Dr. Holger Neumann

Nr. 270 vom 17. Dezember 2024, Seite 19

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